Das Herz öffnen können – Spiritualität in der Begleitung sterbender Menschen

Für Ingrid Marth, Palliativschwester und ­Buddhistin, ist eine offene Haltung das wichtigste, wenn sie ­sterbende Menschen begleitet. Zu lernen, auch sich selbst ­unbewertet betrachten zu können – mit allen Schattenseiten – ist dafür Grundvoraussetzung.

Ich arbeite mittlerweile seit über fünf Jahren als diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester im Mobilen Palliativteam der Caritas Socialis. Immer noch bin ich sehr glücklich und froh, diese Arbeit machen zu dürfen. Nicht zuletzt wegen eines Erlebnisses, das ich kurz nach Abschluss meiner Ausbildung hatte, habe ich mich intensiver mit dem Thema Spiritualität und Begleitung von Menschen auf ihrem letzten Weg auseinandergesetzt. Damals erkrankte eine mir wichtige ältere Bekannte an Krebs. Ihr Zustand verschlechterte sich rasch. Obwohl ich davon wusste, erfand ich immer wieder neue Ausreden, um sie nicht besuchen zu müssen. Als mich die Nachricht ihres Todes erreichte und ich beim Begräbnis ihren Mann traf, sagte er mir, wie sehr sie bis zum Schluss auf meinen Besuch gewartet und gehofft hatte, mich noch einmal zu sehen. Dieses Erlebnis ist bis heute prägend und wegweisend für mich geblieben. Seither weiß ich auch, dass wir uns alles verzeihen können, außer wenn wir uns selbst nicht treu geblieben sind.

Von Geburt an bewegen
wir uns auf den Tod zu

Während meines Berufsalltags habe ich oft gesehen, wie schwer es den Menschen fällt, loszulassen, vor allem, wenn es Unerledigtes in ihrem Leben gibt. Ebenso schwer fällt es Angehörigen, loszulassen und mit Tod und Vergänglichkeit umzugehen.
Eine Kernfrage, der ich während der intensiven Beschäftigung mit dem Thema immer wieder begegnete, ist, warum Menschen leiden und was getan werden kann, um dieses Leiden zu lindern. Antworten, die für mich persönlich Sinn machen, habe ich vor allem in Büchern gefunden, die sich mit Buddhismus befassen. Geburt, Altern und Sterben sind drei Phänomene, denen niemand entkommen kann, und es macht also durchaus Sinn, darüber nachzudenken, dass wir nicht lange in diesem Leben bleiben werden. Wenn wir uns des Todes nicht bewusst sind, werden wir es auch versäumen, uns dieses besonderen menschlichen Lebens bewusst zu sein und es entsprechend zu nutzen. Vom Augenblick der Geburt an bewegen wir uns auf den Tod zu.

Wir können gute Bedingungen schaffen
„Ungleichgewicht und Leid sind inhärente Bestandteile menschlicher Existenz, ebenso wie der Tod“, sagte der jüdische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky. Auf ihn geht das Konzept der Salutogenese (Entstehung von Gesundheit) zurück. Der salutogenetische Ansatz fragt weder nach Ursachen oder Risikofaktoren einer Krankheit, sondern vielmehr nach äußeren und inneren Bedingungen von Gesundheit. Mit Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit gemeint, sondern die Fähigkeit, mit Krisen, Herausforderungen und Stressoren des Lebens gesundheitsförderlich und sinngebend umzugehen. Es geht nicht darum, Krankheit, Leid und Tod zu bekämpfen und zu beseitigen. Es geht darum, Menschen gute Bedingungen und Unterstützung anzubieten, um Leid, Krankheit, Abschied, Trauer und Tod verstehen, akzeptieren und annehmen zu können.

Als Begleiterin versuche ich
den „ganzen“ Menschen zu sehen

In meiner Arbeit versuche ich, mich einzulassen auf mein Gegenüber, alles, was da ist, zuzulassen und dann wieder loszulassen. Ich verbünde mich gewissermaßen mit den Menschen, die ich begleite – mit ihnen und dem, was sie mit mir teilen mögen. Mein Anspruch muss es sein, mein Gegenüber zu verstehen und an dem teilzuhaben, was ihn bewegt: seine Lebenseinstellung, seine Sicht auf die Dinge, seine Vorbilder kennenzu­lernen und mich mit Ratschlägen zurückzuhalten. Es erfordert viel Feingefühl, die richtige Balance zu finden, wann und wo es gut ist zu sprechen und wo es besser ist zu schweigen. Indem ich zuhöre versuche ich, den ganzen Menschen, seine Situation, das was er geleistet hat, was gut und was weniger gut gelungen ist, seine Lebensgeschichte zu würdigen. Den ganzen Menschen ansehen schenkt ihm Ansehen. Das Leben hört bis zu seinem letzten Atemzug nicht auf, einen Sinn zu haben.

Um eine entsprechende Haltung einnehmen zu können, muss ich mich zuerst damit auseinander setzen, wie ich mein eigenes Leben sehe und wie ich der Welt gegenüberstehe. Auch hier geht es um Sinnhaftigkeit und Stimmigkeit. Natürlich ist es hilfreich, wenn wir ein gewisses Grund­vertrauen mitbringen.

Eine buddhistische Methode, um
aufrichtige Präsenz zu ermöglichen

Ich möchte eine Technik vorstellen, die es ermöglichen sollte, verbal und nonverbal Betroffenen und Angehörigen zur Seite zu stehen. Ich hatte das Glück, Entscheidendes zum Thema Sterbebegleitung bei herausragenden buddhistischen Persönlichkeiten zu lernen: Die Amerikanerin Christine Longaker fand durch den Tod ihres Mannes Zugang zu Hospizarbeit und Spiritualität, und wurde Schülerin des tibetisch-buddhistischen Lehrers Sogyal Rinpoche, der seit 1974 im Westen lehrt. Ihr begegnete ich zweimal bei Seminaren zum Thema „Weisheit und Mitgefühl in der Begleitung Sterbender“. Ähnliche Kurse besuchte ich bei Lama Yeshe Sangmo. Sie ist Deutsche und seit vielen Jahren tibetisch-buddhistische Nonne. Sie hat unter Lama Gendün Rinpoches Leitung in einem Kloster in Frankreich einige Jahre in Zurückziehung studiert und praktiziert und leitet inzwischen das Buddhistische Zentrum in Möhra/Thüringen.

Meditation der liebevollen Güte

„Setz dich bequem und aufrecht auf einen Stuhl oder ein Meditationskissen und bring deinen Geist mit Hilfe der Meditationspraxis zur Ruhe. Lass alle Gedanken kommen und gehen, lade sie weder ein noch folge ihnen, bleib in einem Zustand der Offenheit und Stille. Schließ die Augen oder lass den Blick halb geöffnet vor dir im Raum ruhen, ohne einen bestimmten Punkt zu fixieren. Sobald du ruhig bist, richte dich ein wenig auf und beginne mit der Praxis.
Schick deinen Geist in deine Jugend oder Kindheit zurück und versetz dich möglichst ungekünstelt in eine Situation, in der dich die Liebe eines Menschen tief berührt und bewegt hat. Lass dieses Gefühl in dir aufsteigen und dein Herz mit Dankbarkeit erfüllen. Dehne nun diese Liebe auf alle Wesen aus. Beginne dabei mit Menschen, die dir sehr nahe stehen, wie Partner, Kinder, Eltern oder Freunde. Wenn du darin gut geübt bist, kannst du versuchen, dein Mitgefühl auf Menschen auszudehnen, die du nicht magst oder mit denen du Probleme hast, ja selbst so genannte Feinde kannst du mit der Zeit in die Übung einschließen und schließlich das gesamte Universum. Diese Übung zapft an der Quelle der Liebe an, die völlig grenzenlos und unvoreingenommen ist. Diese Liebe strahlt voller Kraft auf alle Lebewesen und schickt ihnen Glück… “ ­(Sogyal Rinpoche: Das Tibtische Buch vom Leben und vom Sterben).

Offenheit mit sich selbst
ermöglicht Mitgefühl mit anderen

Es ist sehr schwierig, ganz ehrlich und aufrichtig zu sein und zu kommunizieren. Aber anders kann eine mitfühlende Beziehung nicht aufgebaut werden. Voraussetzung ist, dass wir uns nicht vor uns selber verschließen. Das bedeutet, dass wir unsere Gefühle zulassen und nicht wegschieben dürfen. Wir müssen jedes Fragment, das uns ausmacht, akzeptieren, selbst Aspekte, die wir nicht mögen – unsere Schattenseiten. Das wiederum setzt voraus, dass wir an nichts festhalten. Nur im offenen urteilsfreien Raum können wir unsere Gefühle eingestehen. Und nur, wenn wir nicht gefangen sind in unserer eigenen Sicht der Dinge, können wir entsprechend mit anderen ­kommunizieren.

Die Bereitschaft, das, was wir erleben, auch tatsächlich zu fühlen, ist ein erster Schritt, uns „aufzubrechen“. In der Meditation lernen wir, nicht nur das Angenehme wahrzunehmen, ohne es zu bewerten, sondern auch das weniger Angenehme. Wir streben danach, für alles, was wir fühlen, offen zu sein. Indem wir uns nicht mehr verschließen, kann mitfühlendes Handeln möglich werden.
Alte Gewohnheitsmuster werden sich langsam auflösen, wenn wir lernen, Aspekte, die wir an uns ablehnten, anzunehmen. Während wir üben, Mitgefühl mit uns zu empfinden, weitet sich die Bandbreite des Mitgefühls für andere, und unser Horizont und unser Interesse dehnt sich aus. Statt Schmerz und Leiden auszugrenzen, können wir unser Herz öffnen und dieses Gefühl kann als etwas erlebt werden, das uns aufweicht und reinigt und das uns liebevoll und sanft macht.

Erstmals veröffentlich im Jahresreport 2010 des Mobilen Hospiz

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